Fantasie G-Dur BWV 572

Die Fantasie G-Dur, auch Pièce d’Orgue genannt (BWV 572), ist eine Orgelkomposition von Johann Sebastian Bach und gehört zu seinen bekanntesten und meistgespielten Orgelwerken. Sie stammt aus Bachs Weimarer Zeit, besteht aus drei Teilen und ist in zwei Fassungen überliefert. Die Frühfassung ist eine Abschrift, die Bachs entfernter Vetter Johann Gottfried Walther um 1712 in Weimar angefertigt hat. Bei dieser beginnt der Pedaleinsatz erst am Ende des zweiten Satzes (Takt 176).[1] Die zweite Fassung, bei der vor allem der erste Teil erweitert wurde, entstand in den späten 1720er Jahren in Leipzig.

Aufbau

J.G. Walther gibt in seinem Musicalischen Lexicon von 1732 folgende Definition des in der deutschen Barockmusik selten verwendeten Formbegriffs Pièce: „Pièce…wird hauptsächlich von Instrumentalsachen gebraucht, deren etliche als Teile ein ganzes Stück zusammen konstituieren“.

Erster Teil

Der erste Teil der Fantasie in G-Dur enthält in der Frühfassung keine Tempobezeichnung, in der Endfassung ist er mit Très vitement („Sehr schnell“) überschrieben. Dies ist ein Manualsolo im 12/8-Takt mit einer weit ausgesponnenen, einstimmigen Melodielinie, die jedoch eine latente Mehrstimmigkeit suggeriert, ähnlich wie im Präludium C-Dur aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers.

Zweiter Teil

Der zweite Teil beginnt mit einem überraschenden Pedaleinsatz auf dem Grundton G. Er trägt in der Frühfassung die Spielanweisung Gayement („Fröhlich“ bzw. Allegro), in der Endfassung hingegen Gravement („Langsam“, „Getragen“). Zusammen mit den unmittelbar darauf einsetzenden Manualstimmen entsteht nun ein fünfstimmiger Satz im Alla-breve-Takt, der vor allem durch harmonische Kühnheit mit zahlreichen Vorhalten geprägt ist und auf französischen Vorbildern beruht.[2] Keine der fünf Stimmen übernimmt darin die Führung, es handelt sich also nicht um eine Fuge. Dies ist ein klassisches Beispiel für das französische Grand plein jeu, bestehend aus sämtlichen Prinzipalen und Mixturen, wobei der Schwerpunkt ausschließlich auf der Entwicklung der Harmonik liegt und auf Kontrapunkt und Melodik weitgehend verzichtet wird. Über 157 Takte steigert sich allmählich die harmonische Spannung und kulminiert schließlich in einem Orgelpunkt auf der Dominante D, der sich über neun Takte hinzieht. Das Ende dieses Teils erfolgt in einem abrupten Trugschluss auf einem verminderten Septakkord.

Philipp Spitta beschreibt Aufbau und Wirkung des zweiten Teils wie folgt:

„Gegen das Ende hin […] tritt auch das Tonleitermotiv erst mächtig und langathmig hervor, mehr und mehr steigert sich nun der Ausdruck zu einer unbeschreiblichen Intensität und Gluth, welche weit, weit über das Leistungsvermögen der Orgel sich hinausschwingt: Das Pedal steigt langsam und unwiderstehlich vom D durch zwei Octaven in ganzen Noten aufwärts, dann liegt es im gewaltigen Orgelpunkte lange wieder auf dem Ausgangstone, die linke Hand übernimmt das Motiv in Terzen, und darüber schwingen sich die Contrapuncte weiter und weiter auf.“

Philipp Spitta[3]

Der Ton Kontra H im Takt 94 in der Pedalstimme fehlt auf sämtlichen Orgeln, mit denen Bach zu tun hatte, ist aber auf vielen Cembali vorhanden. Thomasorganist Ullrich Böhme vermutet deshalb, dass der 2. Satz ursprünglich ein manualitäres Stück war.[1]

Dritter Teil

Der dritte Teil besteht aus arpeggierenden Manualläufen in 32tel-Sextolen, untermalt von chromatisch absinkenden Pedaltönen, die wiederum auf dem D als Orgelpunkt landen, bevor die lang erwartete, triumphierende Schlusskadenz in G-Dur erreicht wird. Der Schlussteil trägt in der Frühfassung die Tempoangabe Lentement („Langsam“), in der Endfassung fehlt hingegen eine Tempobezeichnung. Dies ist mit ein Grund, weshalb es zu diesem Teil verschiedene Interpretationsansätze gibt. Während ihn viele Organisten als dramatische Schlusssteigerung wahrnehmen, interpretieren ihn zum Beispiel Olivier Latry, oder auch Scott Ross,[4] als ruhigen, nachdenklichen Ausklang.[5]

Einzelnachweise

  1. a b Textheft zur CD: Die neue Bach-Orgel der Thomaskirche zu Leipzig. Querstand 2001 (Erläuterungen von Thomasorganist Ullrich Böhme zur Kirche und zur Orgel), Seite 7
  2. siehe Artikel von Folker Froebe in der ZGMTH
  3. Folker Froebe, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 9/1, 2012.
  4. Scott Ross spielt Orgel
  5. Olivier Latry an der Orgel der Universität Notre Dame
VD
Kompositionen für Orgel, Klavier und Laute von Johann Sebastian Bach
Orgel

Fuge in g-Moll BWV 131a (unsicher) (en) - Sonaten BWV 525–530 - Präludium und Fuge D-Dur BWV 532 (en) - Fantasia und Fuge c-Moll BWV 537 (en) - Toccata und Fuge d-Moll („Dorische“), BWV 538 - Toccata und Fuge F-Dur BWV 540 - Fantasie und Fuge g-Moll BWV 542 (en) - Präludium und Fuge a-Moll BWV 543 (en) - Präludium und Fuge e-Moll BWV 548 (en) - Acht kleine Präludien und Fugen, BWV 553–560 (unsicher) (en) - Fantasie und Fuge c-Moll BWV 562 (en) - Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564 - Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 - Präludium (Toccata) und Fuge E-Dur BWV 566 (en) - Fantasie G-Dur BWV 572 - Fuge g-Moll BWV 578 (en) - Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582 - Concertos BWV 592–597 (en) - Orgelbüchlein BWV 599–644 - Schübler-Choräle BWV 645–650 - Achtzehn Choräle von verschiedener Art BWV 651–668 (Leipziger Choräle) - Sei gegrüßet, Jesu gütig BWV 768 (Choralpartita) (en) - Canonische Veränderungen über Vom Himmel hoch BWV 769 - Neumeister-Sammlung BWV 1090–1120 (en) - Wo Gott der Herr nicht bei uns hält BWV 1128 (Choralfantasie) (en)

Klavier

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Laute

Suite g-Moll, BWV 995 (en) - Suite e-Moll, BWV 996 (Bourrée) (en) - Präludium, Fuge und Allegro in Es-Dur, BWV 998 (en) - Präludium c-Moll, BWV 999 (en) - Fuge g-Moll, BWV 1000 (en)

gemischte
Sammlungen

Clavierübung III: Präludium und Fuge Es-Dur, BWV 552, Choralbearbeitungen, BWV 669–689, Duette, BWV 802–805 - Concerto-Transkriptionen, BWV 592–596 und 972–987 (en) - Klavierbüchlein W. F. Bach - Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach - Zwölf kleine Präludien (en)