Kadavergehorsam

Als Kadavergehorsam (lat. perinde ac cadaver) bezeichnet man einen Gehorsam, bei dem sich der Gehorchende einem fremden Willen uneingeschränkt, wie ein willenloser Kadaver, unterwirft.

Vorgeschichte

Das deutsche Wort „Kadavergehorsam“ geht in der sprachlichen Gestalt auf die Satzung des Jesuiten-Ordens zurück. Der Ordensgründer Ignatius von Loyola erarbeitete den Text auf Spanisch und ließ ihn von seinem Sekretär Juan Alfonso de Polanco ins Lateinische übertragen. In der 1558 von der Ordenskongregation veröffentlichten Fassung heißt es:[1]

«Et sibi quisque persuadeat, quòd qui sub Obedientia vivunt, se ferri ac regi a divina Providentia per Superiores suos sinere debent perinde, ac si cadaver essent, quod quoquoversus ferri, et quacunque ratione tractari se sinit; vel similiter, atque senis baculus, qui, ubicunque, et quacunque in re velit eo uti, qui eum manu tenet, ei inservit.»

„Wir sollen uns dessen bewusst sein, dass ein jeder von denen, die im Gehorsam leben, sich von der göttlichen Vorsehung mittels des Oberen führen und leiten lassen muss, als sei er ein toter Körper[2], der sich wohin auch immer bringen und auf welche Weise auch immer behandeln lässt, oder wie ein Stab eines alten Mannes, der dient, wo und wozu auch immer ihn der benutzen will.“

Deutsche Übersetzung von Peter Knauer (1998)[3]

Der Vergleich des uneingeschränkten Gehorsams mit der Willenlosigkeit eines Leichnams verdankt sich einer bereits mittelalterlichen, von Franz von Assisi geprägten Bildtradition, worauf Robert Bellarmin 1588 bei Auseinandersetzungen innerhalb des Jesuitenordens über diese Auffassung des Gehorsams zu deren Rechtfertigung verwies.[4] Denn schon Franz von Assisi hatte die vollkommene und höchste Form des Gehorsams (perfecta et summa obedientia) gegenüber dem Vorgesetzten mit einem toten, entseelten Leib (corpus mortuum, corpus exanime) verglichen, der sich ohne Widerstreben und ohne Murren hinbringen lässt, wo man will, auch auf ein Katheder gesetzt nicht nach oben blickt, sondern nach unten (d. h. nicht übermütig wird, sondern demütig bleibt) und auch in Purpur gekleidet nur noch bleicher wirkt als zuvor (d. h. die Todesverfallenheit des Menschen nicht vergessen lässt, sondern umso deutlicher vergegenwärtigt).[5]

Dieser Vergleich, der seinerseits an die biblische Bildlichkeit des corpus mortuum als des um Christi willen abgetöteten Leibes anknüpft, fand in der klösterlichen und spirituellen Welt des Spätmittelalters weite Verbreitung und wurde auch von den weiblichen Ordensgemeinschaften aufgegriffen, so bei Katharina von Siena in einem Schreiben an die Schwestern in Perugia:[6]

«O obedienza dolce, che non hai mai pena! Tu fai vivere, e correre gli uomini, morti; perocchè uccidi la propria volontà: e tanto quanto è più morto, più corre velocemente, perocchè la mente e l’anima ch’è morta all’amore proprio d’una perversa volontà sensitiva, più leggermente fa il corso suo, e uniscesi col suo sposo eterno con affetto d’amore; e viene a tanta elevazione e dolcezza di mente, che essendo mortale, comincia a gustare l’odore e i frutti delli Immortali.»

„Oh süßer Gehorsam, der du niemals Leid erfährst! Du bringst die Menschen, Tote, zum Leben und zum Laufen; weil du den eigenen Willen tötest: und je mehr er gestorben ist, desto schneller läuft er, denn der Geist und die Seele, die der Eigenliebe eines perversen sinnlichen Willens abgestorben ist, vollzieht ihren Lauf um so leichter und vereint sich mit ihrem ewigen Bräutigam im Affekt der Liebe; und gelangt zu einer solchen Erhebung und Süßigkeit des Geistes, dass sie im Zustand der Sterblichkeit bereits beginnt, den Geruch und die Früchte der Unsterblichen zu kosten.“

An diese monastische Tradition knüpfte auch Ignatius von Loyola an. Dabei verwendete er in der spanischen Fassung seines Textes die Formulierung cuerpo muerto[7] und noch nicht den erst durch die lateinische Übersetzung verbreiteten Begriff cadaver. In jüngerer Zeit wurde angeführt, dass sich die spanische Formulierung nicht notwendigerweise auf einen toten Leib beziehen muss. Anders als das corpus mortuum oder corpus exanime in der franziskanischen Tradition könnte Loyola allgemeiner einen „leblosen Gegenstand“ gemeint haben, wie er ihn auch in seinem zweiten Vergleich, dem Stab in der Hand des alten Mannes, konkretisiert.[3]

Entstehung und Gebrauch des Begriffs „Kadavergehorsam“

Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Reformation und Gegenreformation und mehr noch in der vom Freiheitsbegriff und Antiklerikalismus der Aufklärung geprägten Kritik am Jesuitenorden wurde auch dessen Gehorsamsbegriff zum Gegenstand kritischer Deutungen und Verdächtigungen. In ihren deutschen Übersetzungen und Paraphrasen der Ordenssatzung hoben die deutschen Kritiker nach der Wiederzulassung des Ordens von 1814 immer wieder die Vergleichsformel „wie wenn sie ein Cadaver wären“[8] in betont enger Anknüpfung an Polancos lateinische Übersetzung hervor und karikierten den Jesuiten in seiner Verpflichtung zu einem Verhalten „wie ein Cadaver, das sich nach Willkür drehen und wenden läßt“[9] als Gegenbild zu den eigenen Vorstellungen von der Freiheit der Willensentscheidung und vernünftiger Unterordnung. In Frankreich war es besonders Eugène Sue, der der antijesuitischen Propaganda zu dieser Zeit durch seinen Erfolgsroman Le juif errant (1845, dt. Der Ewige Jude) breiteste Leserkreise verschaffte und hierbei auch die Begriffe obéissance de cadavre und obéissance cadavérique popularisierte.[10]

Das deutsche Kompositum Kadavergehorsam kam erst in den Debatten des Kulturkampfes der 1870er-Jahre über das 1872 erfolgte Verbot des Ordens im deutschen Reichsgebiet auf,[11] und zwar als ein antijesuitisches Schlagwort, das rasch weite Verbreitung fand und bald als Germanismus auch in andere europäische Sprachen einging. Dort wurde es seither häufig in übertragener Verwendung auch zur Charakterisierung der angeblichen Mentalität des preußischen und deutschen Militärs und der davon geprägten Gesellschaft gebraucht. In Wirklichkeit setzt gerade die vom preußischen und deutschen Militär (unter anderem in beiden Weltkriegen) sehr erfolgreich umgesetzte Auftragstaktik das Gegenteil von Kadavergehorsam voraus. Inzwischen gilt als anerkannt, dass es sich bei dem nicht zuletzt in zahlreichen Kriegsfilmen gepflegten Stereotyp vom preußisch-deutschen Kadavergehorsam um eine Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse handelt; dies gilt – mit gewissen Abstrichen – auch für die Wehrmacht in der Zeit des Nationalsozialismus.[12]

Siehe auch

Wiktionary: Kadavergehorsam – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Const. pars 6, cap. 1 § 1; hier zitiert nach der Ausgabe Constitutiones Societatis Iesu. Anno 1558. Romae, in aedibus Societatis Iesu. 1558. Reprinted from the Original Edition, London 1838, S. 71; die heute maßgebende, in der Textgestalt identische, in der Orthographie und Interpunktion modifizierte Ausgabe findet sich in den Monumenta Historica Societatis Iesu (MHSI), Bd. 65, 1938, S. 176.
  2. Wörtlich „ein Kadaver“, „ein Leichnam“
  3. a b Peter Knauer (Hrsg.), Ignatius von Loyola: Satzungen der Gesellschaft Jesu, 3. Aufl. Frankfurt/Main 1980, S. 547; vgl. Ignatius von Loyola: Gründungstexte der Gesellschaft Jesu, Würzburg 1998, S. 740.
  4. Vgl. Silvia Mostaccio: Codificare l’obbedienza. Le fonti normative di gesuiti, oratoriani e cappuccini a fine Cinquecento, in: Dimensioni e problemi della ricerca storica 1 (2005), S. 49–60, hier S. 52f. (Online-Version, aufgerufen am 23. Februar 2009)
  5. Thomas von Celano: Vita secunda sancti Francisci, cap. CXII, § 152 (Online-Text (Memento vom 9. Dezember 2008 im Internet Archive), zuletzt aufgerufen am 23. Februar 2009); vgl. Speculum Perfectionis status fratris Minoris, cap. 48: Qualiter assimilavit perfectum obedientem corpori mortuo (Online-Text (Memento vom 29. November 2014 im Internet Archive), zuletzt aufgerufen am 23. Februar 2009); Bonaventura: Legenda maior sancti Francisci, cap. VI, 4, 8–13 (Online-Text (Memento vom 21. Mai 2008 im Internet Archive), zuletzt aufgerufen am 23. Februar 2009)
  6. Niccolo Tommaseo (Hrsg.): Le Lettere di S. Caterina da Siena, Band III, Barbèra, Florenz 1860, Epist. CCXVII, S. 219–225, hier S. 224.
  7. So auch gemäß einem Brief Polancos vom 1. Juni 1555: „Desea en los de la Compañía vna resignatión de sus proprios voluntades, y vna indiferentia para todo lo que les fuere ordenado, lo qual suele significar por vn bastón de viejo, que se dexa mouer á toda la voluntad dél, o como de vn cuerpo muerto, que donde le lleuan va sin repugnatia ninguna.“ Epist. 1884, § 7, in: Monumenta Ignatiana ex autographis vel ex antiquioribus exemplis collecta, Series I, Tomus III, Madrid 1905, S. 499–503, hier S. 502.
  8. Jesuiten-Erziehungskunst zum unbedingten Gehorsam, in: Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (Hrsg.): Sophronizon, Jg. VII, Heft 3, 1825, S. 99–112, S. 107f.
  9. Charakterisierung des Jesuiter-Ordens aus dem welthistorischen Gesichtspunkt, in: H. E. G. Paulus, Sophronizon, Jg. X, Heft 5, 1828, S. 75–108, hier S. 84.
  10. Eugène Sue: Le juif errant, Paris 1851, S. 147, S. 284 (PDF bei Google Books, zuletzt aufgerufen am 23. Februar 2009)
  11. Als erstes Wörterbuch verzeichnet das seit 1869 erschienene Sprichwörter-Lexikon von Karl Friedrich Wilhelm Wander († 1879) in den Ergänzungen des 1880 von Joseph Bergmann herausgegebenen fünften und letzten Bandes „Cadavergehorsam“ mit Beleg aus einer Rede vom 8. Mai 1875: „Was den uns vorgehaltenen Cadavergehorsam betrifft, so beruht dieser Ausdruck auf einer Vorschrift des heiligen Franziskus, der das Gleichnis brauchte: «Nehmt einen Leichnam, legt ihn, wohin ihr wollt, er wird niemals murren, widerstreben und den Gehorsam verweigern; das ist der wahre christliche Gehorsam.»“ (Sp. 1094)
  12. Jaap Jan Brouwer: The German Way of War. A lesson in tactical management. Pen & Sword Military, Yorkshire - Philadelphia 2021, ISBN 978-1-5267-9037-8, S. 7.